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Schnipsel-Musik

Eben las ich in einem US-Computerheft: „ …you will create your own music in no time without playing a note – ever!“ Oder frei übersetzt: „Sie werden in kürzester Zeit in der Lage sein, ihre eigene Musik zu kreieren, ohne je eine Note spielen zu müssen.“

Die Aussage machte mich zuerst stutzig, dann säuerlich: Einmal mehr werden den Konsumenten Versprechungen gemacht, die völlig realitätsfremd sind.

Und dann stimmte mich die Aussage nachdenklich: Es wurde Zeit, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen.

Doch zuerst eine wichtige Erkenntnis: Musik beruht – wie eigentlich alle Kunst – auf Emotionen. Jede Kunstform verpackt diese persönlichen Emotionen (des Künstlers) in eine für ihn ideale Form (Klänge, Bilder, Worte usw.), die es ermöglicht, diese Gefühle überhaupt weitegeben zu können. Der Konsument entpackt diese Form und kann so in den meisten Fällen die Emotionen des Künstlers in einer für ihn zutreffenden Form selbst erleben oder zumindest nachvollziehen.

Aber Achtung: Es ist etwas anderes, wenn wir unsere persönlichen Emotionen mit „Kunst“ assoziieren. Als Beispiel sei der Hit aus den Sommerferien erwähnt, an und für sich ein banales Liedlein, für uns jedoch mit einem romantischen (oder was auch immer) Gefühl verbunden wurde, das bei jedem Anhören wieder ausgelöst werden kann.

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Rückblende

 Im Januar 2004 sah ich an der NAMM in Anaheim zum ersten Mal eine Präsentation von Garage Band am Apple Stand. Ich war begeistert! So einfach kann es sein Musik zu machen?! Das wird die Musikwelt ebenso revolutionieren wie iMovie die Videowelt!

Seither sind viele Monate ins Land gezogen und ich hatte Zeit zu reflektieren. Auch hatte ich ein paar eigene Erfahrungen mit Garage Band und Apple Loops gemacht. Sicher: Die „Erfindung“ der Apple Loops, die sich automatisch der Tonart und dem Tempo anpassen, ist genial – als Erfindung. Und ja, auch ich habe inzwischen zwei kurze Firmensignete mit geschnipselten Garage Band Klängen hinterlegt.

Letzthin hatte ich einen interessanten musikalischen Auftrag: „Erzeuge“ 26 Minuten passende „Hintergrundmusik“ zu einer Multimediashow über die lokale Geschichte der Fliegerei. Als ich den Auftrag annahm, dachte ich, das wäre eine gute Gelegenheit die Schnipselmöglichkeiten in Logic Pro 7 auszutesten, da uns ja Apple in der neusten Version dieser Software (vergl. meinen Testbericht) die Apple Loops Verwendung wirklich leicht machte.

Nach über 10 Stunden an Bildschirm und Tastatur, dem anhören von unzähligen Loops, dem evaluieren, zusammensetzen, abspielen und wieder verwerfen, hatte ich keine Minute brauchbare Musik im Kasten. Alles klang steril, herzlos, mechanisch, unpassend. Es war, als ob ich einen Artikel „geschrieben“ hätte, für den ich superb klingende Sätze, geschrieben von den weltbesten Journalisten zusammenkleisterte. Jeder Satz war für sich ein kleines Meisterwerk, doch das ganze machte keinen Sinn, löste keine Emotionen aus.

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Noch weiter zurück

Im Zuge eine Aufräumaktion wollte ich all meine musikalischen Endprodukte, die sich auf vielen verschiedenen Medien befanden, sortieren und auf CDs „sammeln“. Die Formate variierten von geschnittenen Schallplatten über Offenspulenbänder (Schnürsenkel im 2- und 4-Spur Format, aufgenommen in 9.5, 19 und 38 cm/sec) und Kompaktkassetten bis hin zu Minidisc und DAT-Kassetten. Die Aufnahmen stammten aus 40jähriger musikalischer Aktivität. Meine formale musikalische Ausbildung ist minimal, fast würde ich sagen inexistent. Alles was ich kann, eignete ich mir selber an, wie z.B. Grundlagen der Harmonielehre als Banjospieler in Dixieland Bands. Klavierstunden hatte ich während rund einem Jahr – erfolglos, Gitarre, Vibraphon, Querflöte, E-Bass und etwas Schlagzeug lernte ich selber nach der „learning by doing“ Methode und immer soviel, wie ich eben benötigte, um die Musik, die ich spielen wollte, meistern zu können.

In den 70er Jahren machte es Stevie Wonder vor: Dank der neuen Multitrack-Tonbandgeräte konnte jeder Musiker seine Ideen selber verwirklichen und alle Instrumente selber spielen. Natürlich gab es damals noch keine Loop- oder CopyPaste-Funktion. War ein Stück 5 Minuten lang, musste ich 5 Minuten lang Schlagzeug, Bass, Gitarre, Keyboards usw. spielen. Es war schon genial, dass man gewisse Fehler mit Punch-in nachbessern konnte – doch oft war es einfacher, die ganze Spur nochmals aufzunehmen. Und MIDI gab es noch nicht!

In den 80er Jahren kamen MIDI und die ersten Volkscomputer auf, allen voran der Commodore C64 mit Sequenzerprogrammen von C-Lab und Steinberg, gefolgt vom Atari ST. Wow! Nun konnte man Fehler am Bildschirm korrigieren, ein MIDI-Instrument langsam eintippen und ohne Tonhöhenkorrektur im Normaltempo abspielen. Und mit den Quantisier-Möglichkeiten wurden auch rhythmische Ungenauigkeiten ausgebügelt. Traumhaft! (glaubte ich zumindest damals).

Und die Computerprogramme wurden immer ausgefeilter, eröffneten immer mehr Möglichkeiten und waren aus der Musikproduktion nicht mehr wegzudenken.

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Technologien, Erkenntnisse und Erfahrungen

Es geht mir nicht um die Diskussion: analog oder digital? Überhaupt nicht! Es geht auch nicht darum, wie man wann welche Technologien einsetzen soll oder darf. Ich finde, man sollte alles verwenden oder zumindest ausprobieren, was einem das Leben oder den kreativen Prozess erleichtern kann. Deshalb hat meine unten folgende Feststellung nichts mit Technologien an sich zu tun. Auch nicht mit der „guten alten Zeit“.

Beim kritischen Abhören meiner musikalischen Produkte mit genügendem zeitlichem Abstand komme ich zu folgendem Schluss:

  • Alle mit einer Gruppe oder zumindest Mitmusikern gemachten Aufnahmen haben den Zahn der Zeit am besten überstanden, sind auch heute noch „gut“, wirken lebendig und enthalten am meisten Emotionswert.
  • An zweiter Stelle folgen die Aufnahmen, die ich im Multitrackverfahren auf meinem damaligen 16-Kanal-Tonbandgerät machte, ohne Loops und CopyPaste, jeden Ton wirklich selber eingespielt, mit vielen kleinen Fehlern und Ungenauigkeiten.
  • Am schlechtesten schneiden all die quantisierten, Fehler korrigierten Sequenzerfiles ab, die sämtlicher Emotionen beraubt wurden, steril und „perfekt“ klingen.

Mein Aufnahmestudio Ende der 80er Jahre:

Punch-in und Punch-out waren der grösste Luxus in der Fehler-korrektur, denn jeder Ton musste noch live eingespielt werden.

Dafür erlaubten die 16 Spuren einige Variationsversuche.

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Die Musikindustrie klagt über die Rückgänge der Verkaufszahlen von Tonträgern. Doch statt nach den Wurzeln des Übels zu korrigieren und die Tonträger wieder zu Emotionsträgern zu machen, werden schnöde Piraterie und Kopiertechnologien zum Sündenbock erklärt. Das erinnert mich doch sehr an unsere Schulmedizin, in der meist Symptome bekämpft statt Ursachen gesucht und geheilt werden.

Schnipselmusik als Volkssport? Nein danke! Es wird schon genügend Schrott von der Musikindustrie erzeugt – und sagt nicht schon der Ausdruck „Musikindustrie“ alles!?

Ich rufe nun nicht dazu auf, Garage Band und ähnliche Software auf den Müll zu kippen. Was ich mir jedoch wünsche ist, dass (junge) Menschen wieder begreifen, dass Musik mehr ist als das Aneinanderhängen einzelner Loops, und dass man, wenn man Musik machen möchte, halt doch eher seine Zeit mit dem Erlernen eines Musikinstruments verbringen sollte als vor dem Rechner.

Und da ich ganz zu Beginn iMovie als Grundstein zur Videorevolution erwähnte, muss ich doch noch die Frage in den Raum stellen: Haben Sie in den letzten Jahren mehr gute Heimvideos zu Gesicht bekommen?

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Christian Hunziker

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